: Religiosität und Kirchlichkeit im Spiegel soziologischer Theorie und Empirie. Studie im Auftrag der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz. Berlin 2009 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-10111-2 176 S.

Gräb, Wilhelm; Lars, Charbonnier (Hrsg.): Secularization Theories, Religious Identity and Practical Theology. Developing International Practical Theology for the 21st Century. Berlin 2009 : LIT Verlag, ISBN 978-3-8258-0798-6 424 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sven-Daniel Gettys, Neuere Geschichte III, Bochum

Die Säkularisierungstheorie ist tot – es lebe die Säkularisierungstheorie! Aber, muss man einschränken, sie hat, nachdem ihr kongenialer Partner, die Moderne, durch die Attribuierung «Post-» an Schlagkraft eingebüsst hat, ebenfalls an Strahlkraft verloren. Der Lack ist ab. Die Säkularisierung ist, nach ihrem Triumphzug durch mehr als ein Jahrhundert, scheinbar selbst entzaubert worden.

Während Historiker und Soziologen daher zunehmend ihren Gebrauch meiden, haben ausgerechnet die Kirchen, die als Leitragende ihres prognostizierten Siegeszuges galten, der Säkularisierung Asyl gewährt. Das geschah freilich nicht ohne uneigennützige Hintergedanken und nicht ohne, dass der unheilvolle Bruder der Säkularisierung, der Säkularismus, isoliert wurde. Fest steht, dass viele Theologen und Kirchenführer frühzeitig erkannt haben, dass Säkularisierung mitnichten nur ein externes Bedrohungsszenario darstellt, sondern auch einen notwendigen Prozess religiöser und damit kirchlicher Verweltlichung beschreibt, der ein grosses Innovationspotential birgt. So haben sich innerhalb kirchlicher Standortbestimmungen längst fruchtbare und äusserst differenzierte Säkularisierungsdiskurse entwickelt, die historiographisch noch aufgearbeitet werden müssen.

Im LIT-Verlag sind 2009 zwei Studien erschienen, die versuchen der Säkularisierungstheorie zukünftigen Nutzen für die pastorale Arbeit der Kirchen abzugewinnen.

Die Studie ‹Religiosität und Kirchlichkeit im Spiegel soziologischer Theorie und Empirie›, verfasst von Boris Krause in Verbindung mit Karl Gabriel, Reinhard Feitner und Klaus Müller, entstand im Auftrag der ‹Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz›. Unterschiedliche kirchen- und religionssoziologische Untersuchungen sollten gesichtet, ausgewertet und für eine Reform der pastoralen Systematik fruchtbar gemacht werden.

Zu diesem Zweck ist der Ergebnisband in drei unterschiedlich zu gewichtende Teile gegliedert. Der erste Teil gibt einen «Überblick über die zurzeit dominanten Gesellschaftstheorien und ihr[en] Bezug zur Religion». In kurzen einführenden Abschnitten werden die religionstheoretischen Konzepte der Wissenssoziologen Thomas Luckmann und Peter L. Berger, des Hermeneutikers Ulrich Oevermann, des Kultursoziologen Pierre Bourdieu, des Systemtheoretikers Niklas Luhmann und, was etwas überrascht, des Philosophen Michel Foucaults in groben Linien vorgestellt. Dabei ist es wohl der gebotenen Verknappung geschuldet, dass, wie man am Beispiel von Bergers aktuellem Konzept einer De-Säkularisierung sehen kann, die Darstellungen nicht immer auf den aktuellen Stand gebracht sind.

Der zweite Teil widmet sich vier religionssoziologischen Positionen: 1. Der Diffusionsthese Franz-Xaver Kaufmanns, welcher einen Abschied von dem Konzept der ‹Religion› als analytischem Begriff einfordert; 2. dem Befund einer Entprivatisierung der Religion, welchen der spanisch-amerikanische Religionssoziologe José Casanova vorgetragen hat (der seine Thesen allerdings mittlerweile als revisionsbedürftig empfindet); 3. Dem Apostolat einer postsäkularen Gesellschaft, das Jürgen Habermas 2001 in seiner Friedenspreisrede verkündet hat; 4. schliesslich die vorläufige Abkehr von dem Religionsparadigma und dem Säkularisierungstheorem und die Hinwendung zu einer konkreten Werte und Glaubensvermittlung, in welcher Menschenrechte und der Menschenwürde als «konsensfähige ‹Religion› einer modernen, individualisierten Welt» (61) gelten können, wie es der Soziologe Hans Joas in seinen jüngsten Publikationen vorgeschlagen hat.

Der dritte Teil, der den Schwerpunkt der Studie ausmacht, präsentiert das Forschungsdesign und die Befunde von zehn religions- und kirchensoziologischen Umfrageprojekten (u.a. die vier EKD-Erhebungen, die Sinus-Milieu-Studie, den Trendmonitor ‹Religiöse Kommunikation›, die grosse Internet-Umfrage ‹Perspektive Deutschlands› und den ‹Religionsmonitor 2008› der von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde).

In diesem Abschnitt liegt der eigentliche Gewinn der Münsteraner Studie. Erstmals werden die wichtigsten empirischen Erhebungen des deutschsprachigen Raumes nebeneinander gestellt und ihre Methodik und Ergebnisse kritisch reflektiert. Dabei entfaltet sich dem Leser das breite Panorama an Fragestellungen und Themenfeldern, die mal mit quantitativen, mal mit qualitativen Umfragen bereits untersucht worden sind. Signifikant ist bei der getroffenen Auswahl, dass jeglicher Bezug zu der grossen ‹Umfrage zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland›, die 1972 von Gerhard Schmidtchen vorgelegt wurde, fehlt! Stattdessen dienen die EKD-Erhebungen als Vorbild für eine ausgewogene und beständig überarbeitete Umfragepraxis.

Neben der einführenden Lektüre zur empirischen Erforschung der Religion bzw. Religiosität in Deutschland (teils auch Österreich und Europa), gibt die Studie auch über den eingangs geschilderten kirchlichen Säkularisierungsdiskurs Aufschluss. Insbesondere im dritten Teil kommentieren die Verfasser die verwendeten Definitionen von «Säkularisierung », «Religion» und «Religiosität», die den jeweiligen Erhebungen als Grundannahmen dienten, äusserst kritisch. So wird etwa bei der dimap-Umfrage ‹Religion – Politik – Gesellschaft› «Skepsis an der Fruchtbarkeit der gewonnenen Daten für religionstheoretische Fragestellungen» (108), mangels eines ausreichend differenzierten Säkularisierungsbegriffs moniert, gleiches gilt für ‹Perspektive Deutschland›.

Die Gesamtauswertung der Studie konstatiert schliesslich eine «Dialektik von Religion und Religiosität» (148), in der sich erstere als sichtbare, institutionalisierte Form von Religiosität, letztere als persönlich gelebter Glauben zeige. Dass die Kirchen von der vielfach attestierten «Wiederkehr der Religion» bzw. der «Götter» nur bedingt profitieren – und sich dadurch zumindest eine Variante des Säkularisierungstheorems (im Sinne einer Privatisierung der Religiosität) bestätigt – scheint durch die «Entmonopolisierung der Kirchen auf dem Gebiet gelebter Religion besiegelt» (149). Die Kirchen, so die Verfasser, stünden auf der «Schwelle zu einem ‹nach-volkskirchlichen› Zeitalter» (150).

Die Münsteraner Studie kann nicht nur, wie beabsichtigt, kirchlichen Entscheidungsträgern, sondern auch Studienanfängern der Religionswissenschaften als Einstieg in eine komplexe Thematik empfohlen werden.

Dies gilt weniger für den Sammelband ‹Secularization Theories, Religious Identities and Practical Theology›, der von den Berliner Theologen Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier herausgegeben wurde. Es handelt sich hierbei um einen Tagungsband der ‹International Academy of Practical Theology›, die sich vorgenommen hat, Ideen für eine Praktische Theologie des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.

Ein kurzes Vorwort, drei Grussworte, drei Einführungsvorträge und sage und schreibe einundvierzig weitere Beiträge behandeln mal mehr und mal weniger das Verhältnis von Säkularisierung und Praktischer Theologie. Das Themenfeld reicht vom Religionsunterricht, über die pastorale Betreuung von HIV-Infizierten, Kindesmissbrauch, Genderproblematiken, bis hin zum christlichen Engagement für den Frieden u.v.m. Hier fehlt, und daher entsteht ein etwas disparater Eindruck, eine gliedernde Einleitung, die dem Leser den Lektüreeinstieg ermöglicht und die Texte zusammenhält. Dazu kommt, dass einige Beiträge eher den Charakter von ausformulierten Thesenpapieren haben, und nicht alle eine Reflexion des Säkularisierungstheorems betreiben.

Dennoch bietet auch dieser Band interessante Beiträge. Das gilt vor allem für die drei Einführungstexte. Der Soziologe Hans Joas stellt die Frage ‹Does modernisation lead to secularisation?› und gibt in seinem Aufsatz einen kurzen Überblick über grundsätzliche Positionen in der Säkularisierungsdebatte. Die englische Soziologin Grace Davie greift in ihrem Aufsatz ‹Why is Europe the most secularized continent?› die These vom Sonderweg Europas auf und stellt ihren schlüssigen Erklärungsansatz einer «vicarious religion» vor. In der Tat ist in zahlreichen Ländern Europas das Phänomen einer stellvertretenden Religiosität zu beobachten: Eine distanzierte Mehrheit lässt sich im Alltag von einer frommen Minderheit vertreten und findet nur noch zu bestimmten Ereignissen und aus eher egoistischen Motiven den Weg in die Kirchen. Im Vordergrund stehe, so Davie, nicht mehr der Glaube, sondern das Erlebnis. Ähnlich wie Joas sieht aber auch Davie den Trend einer stärkeren Pluralisierung des religiösen Angebotes in Europa und damit eine Neubelebung der religiösen Landschaft.

Einen bemerkenswerten Artikel trägt schliesslich der südafrikanische Theologe Jaco S. Dreyer bei. Sein Blickwinkel ist in zweierlei Hinsicht kontrastierend und daher besonders lesenswert. ‹Do we live in a secular world? An African perspective› geht nicht nur dem obligatorischen Disput USA vs. Europa aus dem Weg, er referiert zugleich in groben Zügen die Entwicklungsgeschichte Afrikas und liefert eine konzise Genese der Säkularisierungstheorie. Dreyer stellt überdies den Ansatz einer «constitutional theory» vor, welcher einer konkretisierten Säkularisierungstheorie grundsätzlich positive Aspekte abgewinnt. Der Kern einer säkularen Verfassung, sei die garantierte Religionsfreiheit. Sie gelte als wichtiges Kennzeichen einer säkularen, d.h. funktional differenzierten Gesellschaft. Zugleich bietet der Verfassungsansatz die Möglichkeit, das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religion in unterschiedlichen Ländern und Kulturen zu vergleichen.

Das am Beginn dieser Rezension stehende Postulat des Todes der Säkularisierungstheorie beschreibt ein Dilemma. Die Vielzahl an Umschreibungen und Bedeutungsverschiebungen machen das «ideenpolitische» Konzept (H. Lübbe) als historische und soziologische Analysekategorie zunehmend problematisch. Allzumal weil auch der Begriff der «Religion» zunehmend hinterfragt wird.

Die beiden vorgestellten Bände zur «Säkularisierung» der Theologie aber zeigen das vielfältige Potential, welches das Konzept für Standortbestimmungen in kirchlichen Erneuerungsdiskursen nach wie vor bereithält. Zugleich wird aber auch, wie man vor allem am zweiten Band sehen kann, bei einer allzu grossen Ausweitung des Anwendungsgebietes einer modifizierten Säkularisierungstheorie, die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit erkennbar.

Zitierweise:
Sven-Daniel Gettys: Rezension zu: Boris Krause in Verbindung mit Karl Gabriel, Reinhard Feitner, Klaus Müller, Religiosität und Kirchlichkeit im Spiegel soziologischer Theorie und Empirie. Studie im Auftrag der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz (=Forum Religion & Sozialkultur, Abt. A: Religions- und Kirchensoziologische Texte, Bd. 18), Berlin et al., LITVerlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 496-498